SCHNEY
Früherer Vizepräsident der EU-Kommission Günter Verheugen referiert in Frankenakademie
Quelle: Obermain Tagblatt
„Kann dieses europäische Einigungswerk scheitern?“ Diese Frage stellte Günter Verheugen als erstes bei seinem Vortrag „Europa und die Welt von morgen“ in der Frankenakademie auf Schloss Schney am vergangenen Mittwoch. Der SPD-Politiker und ehemalige Bundestagsabgeordnete im Wahlkreis Kulmbach-Lichtenfels war Vizepräsident der Europäischen Kommission und beschäftigte sich als EU-Kommissar mit Industrie- und Unternehmenspolitik sowie der EU-Erweiterung. In seinem Vortrag wird deutlich, dass der Zusammenhalt der Länder – politisch wie gesellschaftlich – über die Zukunft Europas entscheiden wird.
In Europa kriselt es nicht nur, was den Zusammenhalt betrifft, sondern besonders auch im Hinblick auf Finanz-, Migrations- und Außenpolitik. Verheugen bezeichnet den Euro als eine „starke, stabile Währung“, gerade im Vergleich zur Deutschen Mark. Die Staatsschuldenkrise bedeute somit keine Krise der gesamten Gemeinschaft. Mangelnde Haushaltsdisziplin Was von Anfang an nicht funktioniert habe, sei die Haushaltsdisziplin in einigen Teilnehmerstaaten. Verheugen schlägt vor, dass im Fall einer nicht „tragfähigen Verschuldung“ ein Eingreifen in das Haushaltsrecht eines nationalen Parlaments erwogen werden sollte – auch wenn das ein „massiver, fundamentaler Eingriff“ sein wird –, etwa durch einen europäischen Finanzminister. Es sollte aber unbedingt ein Element parlamentarischer Kontrolle geben. Wirtschaftlich starke Länder profitieren am meisten von Europa, wobei es ein eindeutiges Nord-Süd-Gefälle gibt. „Wie schaffen wir ein soziales Europa?“, fragt Verheugen. „Wir werden das nicht schaffen, wenn die Stärkeren nicht bereit sind, Solidarität zu beweisen. Denn unsere Überschüsse sind die Defizite der anderen.“ Wettbewerb könne nicht gefördert werden, indem man soziale Standards absenke. Humaneres Verhalten ist auch in punkto Flüchtlingspolitik gefragt. Die Flüchtlinge müssen besser versorgt und geschützt werden. „Es gibt keine Obergrenzen in der Humanität!“ Asyl- und andere Einreiseverfahren sollten aber dringend besser geordnet werden. „Natürlich sind wir ein Einwanderungsland – aber ein wildes“, so Verheugen. Es könne auch keine Lösung sein, eine Art neuen Gaza-Streifen an der österreichischen oder tschechischen Grenze zu errichten. Beim Gedanken an eine kontrollierte Einwanderung stellt sich auch die Frage nach einer Wiedereinführung der Grenzkontrollen innerhalb der EU. Das Schengener Abkommen, diese „Errungenschaft“, sieht er im Moment wanken. Der Zusammenhalt spielt auch für das außenpolitische Auftreten eine Rolle. Gerade im Hinblick auf die Brennpunkte „Flüchtlinge“ und „Ukraine“ sollten die Beziehungen zu Staaten wie Russland und Türkei verbessert werden. Zwischen Europa und Russland habe sich eine neue „Eiszeit“ entwickelt, eine neue Grenze, von der noch nicht klar ist, wie weit im Osten ihre y-Achse verläuft. Nötig sei vor allem auch ein europäisches Sicherheitssystem. Im Falle Syriens müssten sich alle Staaten, die dort Einfluss haben, zusammensetzen. Fest steht für Verheugen jedenfalls: „Die Zeiten sind vorbei, als wir Europäer es uns in einem warmen Winkel der Welt gemütlich machen konnten.“ Die größte Sorge bereite ihm tatsächlich der Zusammenhalt, so Verheugen. Erste Anzeichen für Risse in der Einheit sieht er im Scheitern der EU-Verfassung 2005. Dass der Zusammenhalt schwinde, zeige auch die wachsende Präsenz europaskeptischer Parteien im Europäischen Parlament. Die Entscheidung der Briten, im nächsten Jahr über einen EU-Austritt abzustimmen, wird eine große Rolle spielen. Auch die Bewunderung, die es vor einigen Jahren im Ausland noch für die Europäische Union gab, habe abgenommen. Gerade Deutschland profitiere sehr von der EU und sollte sich deshalb für ein besseres Europa einsetzen.
Von unserer Mitarbeiterin Denise Burkhardt
Quelle: Obermain Tagblatt